Der Wind weht, wo er will
Als im Februar 2022 – als Resultat einer halbhundertjährigen editorischen Herkulesarbeit – der letzte Band der Kritischen Ausgabe «Sämtlicher Werke» Hugo von Hofmannsthals erschien, war eine der größten bibliografischen Lücken in der Wunderkammer der Weltliteratur geschlossen und ein Œuvre erfasst, welches in seiner stilistischen, semiotischen und literarischen Vielfalt das Publikum bis heute vor Rätsel stellt – nicht zuletzt auch deswegen, weil das Enigmatische (oder, um mit dem Dichter selbst zu sprechen, das «Geisterhafte») als zentraler Topos in vielen von Hofmannsthals
Schöpfungen verankert ist. Was indes noch fehlte, war die Biografie dazu, als Bindeglied zwischen Schöpfer, Werkkörper und Nachwelt.
Nun liegt sie vor, als Gemeinschaftswerk eines literaturwissenschaftlichen Gespanns. Elsbeth Dangel-Pelloquin und Alexander Honold haben sich die Arbeit an der «Studie» (so die selbstgewählte Genre-Bezeichnung) geschwisterlich geteilt: Honold, der schon über Thomas Mann und Peter Handke publizierte, übernahm den hermeneutischen Teil, Dangel-Pelloquin, die vor gut einem Jahrzehnt bereits den lesenswerten (Liebes-)Briefwechsel zwischen Hugo und Gerty von Hofmannsthal ediert hatte, widmete sich den Lebensstationen dieses außergewöhnlichen Dichters, Dramatikers, Essayisten und Librettisten, der mit seinen Werken – obwohl ihm zeitlebens der Nobelpreis für Literatur verwehrt blieb – zurecht «als einer der wichtigsten Repräsentanten der deutschsprachigen Literatur der Jahrhundertwende» gilt. Man kann diese Biografie, die eine solche nicht genannt werden möchte (und in ihrem Titel «Grenzenlose Verwandlung» dezidiert einen der werkbestimmenden Topoi Hofmannsthals aufgreift), nicht genug rühmen. Denn eigentlich zum ersten Mal ergibt sich aus den Einzeldarstellungen von Leben und Werk ein Gesamtbild Hugo von Hofmannsthals, dessen Poetik von vergleichbarer Relevanz wie die seines Zeitgenossen Thomas Mann ist – mit dem ihn zwar keine Freundschaft, doch einiges andere verband; so etwa die seltsame Neigung, den Ersten Weltkrieg zunächst als eine gleichsam nationale Beglückung zu empfinden, bevor die Realität des Krieges beide eines Besseren belehrte, aber auch die Stellung innerhalb der Familie: Kein Mucks war erlaubt, wenn die empfindsamen Naturen ihrer Dichtkunst nachgingen.
Dangel-Pelloquin und Honold gelingt mit ihrem Buch das Kunststück, nicht nur eine greifbare geistige Physiognomie des Künstlers zu erstellen, sondern den Menschen Hugo von Hofmannsthal in, hinter und mit seinem Werk in Einklang zu setzen, ohne in die Falle der autobiografischen Verstrickung zu tappen.
Was dabei deutlich hervortritt, ist zweierlei: einmal Wesen und Kern seiner Poetik, die er schon früh, nämlich 1894, mit den Worten «Ich bin ein Dichter, weil ich bildlich erlebe» umreißt; zum anderen die Krise, die jeder Poesie eingeschrieben ist und die Hofmannsthal nicht nur in seinem berühmten «Chandos-Brief» von 1902 so exemplarisch wie extensiv zur Darstellung bringt, wissend, dass Poesie in jener Welt, wie er sie erlebt im vordergründig glanzvollen und von künstlerischen Genies (wie ihm selbst) geradezu übervollen Wiener Fin de Siècle, im Grunde immer in Gefahr ist, von dieser Welt verschlungen zu werden, eine «fröhliche Apokalypse» (Hermann Bahr). «Noch spür ich ihren Atem auf den Wangen: / Wie kann das sein, dass diese nahen Tage / Fort sind, für immer fort, und ganz vergangen?», heißt es schon in der frühen Terzine «Über Vergänglichkeit». Flüchtig ist diese Welt, flüchtig sind die Gestalten, die durch sie hindurchirren, flüchtig aber ist auch die Erinnerung an ihre Geheimnisse.
Was er in seinen Gedichten, in den Erzählungen, Romanen und Theaterstücken immer wieder thematisiert hat, findet sich, leicht abgewandelt, auch in den Libretti, die er für Richard Strauss schreibt (aber eben nicht nur für den Komponisten-Koloss, sondern auch für die Nachwelt), insbesondere in den großen Opern «Elektra» (mit der die ruhmreiche, von Spannungen durchfurchte Zusammenarbeit zwischen Hofmannsthal und Strauss 1906 begann, just zu dem Zeitpunkt seines Bruchs mit dem dämonisch-diabolischen Dichter Stefan George), «Der Rosenkavalier» und «Die Frau ohne Schatten», aber auch in «Arabella», «Ariadne auf Naxos» sowie der «Ägyptischen Helena»: jene unrettbare Verlorenheit des Ichs in der Welt, wie sie der Philosoph Ernst Mach postulierte, verbunden mit einer prekären Wirklichkeitserfassung durch die Figuren selbst und der Dominanz der Zeit als etwas Wesenlos-Allmächtigem – oder wie es die Marschallin im «Rosenkavalier» so bündig zusammenfasst, wenn sie in ihrem großen Monolog des ersten Akts singend sagt: «Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding». Die Zeit, in der Hugo von Hofmannsthal lebte, in der er seine Werke verfasste, sie selbst war ein solch sonderbares Ding. Und wurde genauso auch von ihm empfunden. Ausdruck findet diese Erkenntnis von der durch Poesie unterlaufenen Beschränktheit des Individuums in einem der Aphorismen, die Hofmannsthal in seinem «Buch der Freunde» mit Blick auf seine eigene Existenz notierte: «Wo ist dein Selbst zu finden? Immer in der tiefsten Bezauberung, die du erlitten hast.» Die hohe Kunst der vorliegenden Studie liegt darin, dass sie dieses Phänomen am Beispiel Hugo von Hofmannsthals in all seinen Facetten zu beschreiben vermag.
ELSBETH DANGEL-PELLOQUIN / ALEXANDER HONOLD: GRENZENLOSE VERWANDLUNG
Hugo von Hofmannsthal S. Fischer, Frankfurt a. M. 2024. 928 Seiten; 58,00 Euro
Opernwelt Mai 2024
Rubrik: CDs, DVDs und Bücher, Seite 35
von Jan Verheyen
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