Das kleine Glück, so fern, so nah
Der Weltgeist thront zu Pferde. Nun ja, nicht ganz, denn das arme Tier entpuppt sich bei genauerem Hinsehen erstens als Maulesel und hat zweitens nur zwei Beine (sie gehören einem bärenstarken Statisten, der sich unter dem Leinenfell verbirgt); auch der General ist nur eine blondgescheitelte Kopie Napoleons ohne dessen majestätische Kopfbedeckung. Aber das macht nichts, schließlich ist, zumindest an diesem Abend, Karneval in Florenz – somit allen (fast) alles erlaubt und dem Erfindungsreichtum jedweder Couleur keine Grenze gesetzt.
Für eine Kostümbildnerin ein nachgerade paradiesischer Zustand. Silke Willrett nutzt die sich ihr bietende Chance und schenkt den leicht derangierten Mitgliedern des Buoso-Clans an der Wiener Staatsoper die schönsten (Schein-)Identitäten. Gherardo beispielsweise, Buosos bigotter Neffe (Andrea Giovanni), gibt den erwartbaren devoten Pfaffen, seine hübsche, aber recht neurotische Gattin Nella die ebenso erwartbare, aber so gar nicht heilige, sondern eher zu häuslicher Gewalt neigende Jungfrau Maria. Zita, Cousine des Verstorbenen, der sich vor Beginn des Stücks (vermutlich) zu Tode gesoffen hat, während er Zeitung lesend am Küchentisch hockte und ...
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Opernwelt November 2023
Rubrik: Im Focus, Seite 12
von Jürgen Otten
Als die Ruhrtriennale 2002 unter der Intendanz von Gerard Mortier als Kunstfestival für das Ruhrgebiet erstmals über die Bühne(n) ging, stellten sich dem Gründungsteam zwei Hauptaufgaben, an denen sich auch seine bislang sechs Nachfolger abgearbeitet haben: Wie lassen sich, erstens, die von der Industrie verlassenen Baudenkmäler von der Bochumer Jahrhunderthalle...
Das Bild besaß Symbolcharakter: Während der Ouvertüre zu Richard Wagners romantischer Oper «Lohengrin», die im Graben des Hessischen Staatstheaters bei der (szenisch leider völlig missglückten) Premiere ohnehin eher nach Verkrampfung als nach Verklärung klang, klemmte es irgendwo in der Soffitte und blieb das riesige schwarze Stofftuch zwischen Himmel und Erde...
Wenn der Vorhang aufgeht, betritt eine Frau in bodenlangem Rock die verwaiste, sparsam bebilderte Bühne. Es ist die verwitwete Gutsbesitzerin Larina, mit einem Köfferchen in der Hand, in dem sich die Erinnerungsstücke ihres Lebens befinden. Sie alle werden eine Rolle spielen – vor allem Puschkins Versroman «Eugen Onegin», der später in zahllosen Exemplaren...