BIN ICH’S?
Selbsterkenntnis kann einem auch am Schalter in der Frankfurter Bahnhofshalle drohen. Wenn zum Beispiel die Dame den Ticketkäufer freundlich darauf hinweist, ab 60 sei die Bahncard doch billiger. Allein, Christian Gerhaher, am Morgen nach einem «Don Giovanni» unterwegs, war da gerade mal 44. Sicher unausgeschlafen, ein wenig zerzaust, vielleicht sogar mürrisch. Die Anverwandlung der Rolle, die Verschmelzung von Realität und Regiekonzept (Christof Loy hatte einen alternden Nihilisten im Sinn) war weit fortgeschritten.
Halb Frust, halb Selbstironie: Man liest die Stelle mit Vergnügen – obgleich sie einen weit aufs Glatteis führt.
Denn auch Gerhahers «Lyrisches Tagebuch», nach dem Interviewband «Halb Worte sind’s, halb Melodie» das zweite Druckerzeugnis mit dem Bariton als Protagonisten, ist keine Autobiografie. Gewiss gibt es da Einsprengsel aus seinem Leben. Schlaglichter, Erinnerungsmomente, kurze Preisgaben von Privatem. Aber all das möchte vor allem Ausgangspunkt künstlerischer Überlegungen sein. Wie der Untertitel «Lieder von Franz Schubert bis Wolfgang Rihm» verheißt, geht es fast ausschließlich um die Domäne dieses Ausnahmesängers.
Gerhaher, man erkennt es am komplexen, ...
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Opernwelt Mai 2022
Rubrik: Hören, sehen. lesen, Seite 38
von Markus Thiel
Händels Oper «Alcina» gehört zu den Werken, deren Handlung aus einem Wust aus Namen, Verlobungen und Verkleidungen besteht. Das Beste, was einem solchen Stück passieren kann, ist eine Regie, die dieses Gewirr so auf die Bühne bringt, dass man als Zuschauerin dem Geschehen mühelos folgen kann. So geschehen am Theater Stralsund.
Auf die nur sprichwörtlich «einsame...
Anlässlich des 50. Jahrestages des Kennedy Center hatte Francesco Zambella, Intendant der Washington National Opera, vier kurze Werke in Auftrag gegeben, die sich mit der Geschichte und Identität des Kennedy Center befassen sollten. Im Mittelpunkt stand dabei der Begriff des «Monuments» und damit die kontrovers diskutierte Frage, wie ein Gedenken an den Konflikt...
Diese Frau. Wir kennen sie nicht. Und doch wissen wir instinktiv, wer sie ist, was mit ihr geschieht. Oder bereits geschehen ist? Ganz klar wird das nicht. Sichtbar sind nur jene Tränen, die in Zeitlupe erst über die linke, dann über die rechte Wange kullern. Und ihre Augen, die uns fixieren, über Minuten, und deren Ausdruck anmutet wie der flehentliche Versuch,...
