Tunnelblick
Wer in Verdis «Don Carlos» auf der Bühne den Wald von Fontainebleau, das Kloster San Yuste, den Platz vor der Kathedrale in Valladolid, das Zimmer des Königs oder Carlos’ Gefängnis erwartet, sitzt in Roland Schwabs Inszenierung im falschen Film. Der Blick trifft auf die nackten Betonwände eines fahl von kaltem Neonlicht beleuchteten Autotunnels, dessen Fluchtpunkt sich im Unendlichen verliert. In der engen Kurve qualmt ein umgestürzter, demolierter Sportwagen. Aus der sich öffnenden Tür fällt, schwerverletzt und blutüberströmt, der Fahrer.
Piero Vinciguerras so nüchterne wie bedrückende Szene wird sich bis zum Schluss der fast vierstündigen Aufführung nicht ändern, eine Ansicht, die sich quälend im Kopf festhakt. Ein von der Decke herabhängendes Kreuz und ein paar Stühle – das Kloster. Feurige Gullys, die aus dem Boden brechen – der Richtplatz der Ketzerverbrennung. Ein Sessel – Philippes Arbeitszimmer. Zwei Euro-Paletten – Carlos’ Gefängnis. Alles an diesem Abend ist und bleibt Autotunnel.
Die zwanghafte Bildverengung wirkt oft geradezu deplatziert, öffnet andererseits aber das Auge für Verdis pessimistischste, schwärzeste Oper. Schwab glaubt nicht an die Politparabel auf ...
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Opernwelt März 2020
Rubrik: Panorama, Seite 50
von Uwe Schweikert
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