Umbruch und Aufbruch: Was bleibt von 2018/19?

Opernwelt

Um griffige Formulierungen zur Beschreibung komplizierter Sachverhalte war Alexander Kluge nie verlegen. Seine Definition der Oper als «Kraftwerk der Gefühle» bringt auf den Punkt, was diese komplexeste Variante der darstellenden Künste von Schauspiel, Tanz, Konzert und Performance unterscheidet. Es ist das Zusammenspiel der Kräfte, mit der in Klang, Farben, Licht und Raum blühenden singenden Stimme als prima inter pares, was uns so unvergleichlich, uneinholbar berührt, bewegt. Und eine Magie ausstrahlt, die uns, im besten Fall, wie ein energetischer Strom durchdringt.

Als elektrisierendes Gesamtkunstwerk, das nur in forschender Diskussion, im suchenden Dialog entstehen kann. Und am stärksten wirkt, wenn alle Akteure, Sänger wie Musiker und Dirigenten, Regisseure wie Bühnen- und Kostümbildner, Technik wie Werkstätten, an einem Strang ziehen. Wenn Musik und Szene, Körper und Bild, Stimme und Wort verschmelzen, etwas Außerordentliches, Unerhörtes schaffen, das unsere Sinne mit Sehnsüchten, Ängsten, Gelüsten, Aversionen, kurzum: mit Emotionen konfrontiert, die meist unterhalb der Bewusstseinsschwelle lodern.

«Kraftwerk der Gefühle» – das heißt auch: Oper mobilisiert alle Formen menschlicher Kommunikation, sie synthetisiert sprachlichen und körperlichen Ausdruck, zumal in Gestalt des Naturinstruments «Stimme», und wird so zum prädestinierten Medium für die expressive Erkundung von Verdrängtem, Unausgesprochenem, Unaussprechlichem. In aller Öffentlichkeit. Im Zeitalter der permanenten digitalen Revolution gehören Opernhäuser zu den wenigen (noch) gut besuchten Foren einer direkten, analogen Verständigung über Grundfragen unserer informationsüberfluteten, in Teilidentitäten zersplitterten Existenz: «Was sind wir wert, was ist unser Leben im globalen Verwertungsnetz wert? Was ist die Realität und was an der Realität ist realistisch?», fragte Kluge zu Beginn des Jahres in einem Text, der anlässlich eines am Berliner Haus der Kulturen der Welt konzipierten Projekts zur Analyse der von Algorithmen und binären Codes gesteuerten Gegenwart («Das Neue Alphabet») entstand. Der «Chamäleon-Charakter des Wirklichen», die zur «zweiten Natur» ausgewachsene Sphäre des Virtuellen zwinge uns, neu lesen zu lernen. «Die wirren, kompakten Verhältnisse unserer Welt müssen wir uns neu aneignen und umsortieren, wie es im Märchen die Tauben mit ihren Töpfen taten.» Fazit: «[Wir] brauchen für das 21. Jahrhundert die Erneuerung des Prinzips Wunderkammer.»

«Wunderkammer» – noch so ein Schlagwort, das den Kern jener unmöglichen Praxis trifft, die seit Monteverdi Oper hervorbringt: eine Kunst, die alle Künste an einem Ort vereinigt, alle Fachschranken übersteigt, die Trennung zwischen Schönem und Wahrem, Zauber und Leben aufzuheben sucht. Immer wieder. Und immer wieder neu. Romeo Castellucci, der REGISSEUR und BÜHNENBILDNER DES JAHRES, dessen Salzburger «Salome» zur AUFFÜHRUNG DES JAHRES gewählt wurde (Seite 24), mit einer bis an die Grenzen des Darstellbaren gehenden Asmik Grigorian in der Titelpartie – so viele Voten wie die aus Vilnius stammende litauische Sopranistin hat in der fast drei Jahrzehnte überspannenden Geschichte der «Opernwelt»-Kritikerumfrage kein Sänger und keine SÄNGERIN DES JAHRES auf sich vereinigt (Seite 16) –, hat auch deshalb mehr und mehr zur Oper gefunden, weil er sie als Wunderkammer des Theaterspiels begreift. Und deren synästhetischen Überschuss unter Aufbietung einer völlig eigenständigen, assoziativ montierten Zeichensprache zu vermitteln weiß. Seit «Parsifal», seiner ersten, 2011 in Brüssel vorgestellten Opernproduktion, erregen die musiktheatralischen Arbeiten des introvertierten Querdenkers aus der italienischen Kleinstadt Cesena Aufsehen. Weil Castellucci das Prinzip Wunderkammer beim Wort nimmt, allerdings nicht im Sinne musealer Arrangements, sondern als Modus der Entgrenzung, eines sinnlichen Nachdenkens über die gegenwärtige, durch Spaltung, Vereinzelung, Fragmentierung, Desorientierung geprägte condition humaine. Er erfindet von Musik beseelte Welten, unheimlich, rätselhaft schön, von fremden Figuren belebt, die wir von irgendwoher zu kennen glauben – blutrot geschminkt, bis zur Nase, ist das Gesicht des Herodes und der Seinen in «Salome»; schneeweiß die Milch, in der Salome kauert; hermetisch verschlossen die Wand der Felsenreitschule, wenn sie sich nach dem kopflosen Torso Jochanaans verzehrt. Ob für «Salome», «Die Zauberflöte» in Brüssel, Scarlattis «Il Primo Omicidio» in Paris oder zuletzt Mozarts «Requiem» in Aix-en-Provence, Romeo Castellucci schafft vieldeutig-suggestive Theaterlaboratorien, in denen selbst das Vertraute eine Wucht gewinnt, als begegne man ihm zum ersten Mal – in Salzburg etwa einer beispiellos kristallinen, schneidenden Härtung der Strauss’schen Musik durch Franz Welser-Möst und die Wiener Philharmoniker.

«Salome» gehört auch zu den Stücken, für die Kirill Petrenko, scheidender Musikchef der Bayerischen Staatsoper, einmal mehr zahlreiche Voten erhielt. Die Wahl des Bayerischen Staatsorchesters zum ORCHESTER DES JAHRES – es ist bereits die achte Kür – bestätigt die herausragenden Ergebnisse der Arbeit mit Petrenko. Doch im Konzert der Maestri setzte sich diesmal eine Maestra durch, erst die zweite Frau nach Simone Young (2006): DIRIGENTIN DES JAHRES ist Joana Mallwitz. Die 33-jährige Orchesterleiterin, die nach Stationen in Heidelberg und am Theater Erfurt, wo sie 2014 als jüngste Generalmusikdirektorin Europas antrat, in gleicher Funktion an das Staatstheater Nürnberg wechselte, vollbrachte das Kunststück, binnen kürzester Zeit Musiker, Publikum und Kritik zu begeistern, u. a. mit Prokofjews selten gespielter Tolstoi-Oper «Krieg und Frieden» und Wagners «Lohengrin». Da ist eine neugierige, motivierende, zugleich rigoros auf Qualität bestehende Künstlerin am Werk, die besessen am Klang zu feilen pflegt und doch, wenn es darauf ankommt, loslassen kann. Und die den Betrieb, dem sie sich aussetzt, durchaus kritisch sieht – als leidenschaftliche Anhängerin eines Ensemblegeistes, der die langfristige, behutsame Entwicklung höher schätzt als schnellen Erfolg (Seite 50).

Dass mit der Opéra national du Rhin, jenem oft zu Unrecht im Schatten von Paris und Lyon stehenden Verbundinstitut, das Bühnen in Strasbourg, Colmar und Mulhouse bespielt, zum zweiten Mal eine französische Compagnie OPERNHAUS DES JAHRES geworden ist, geht ebenfalls wesentlich auf die Ideen, kreative Unruhe, Intuition und Geistesgegenwart einer Frau zurück. Als «Opéra d’Europe», mitten in und für Europa, das sein Programm in französischer und deutscher Sprache präsentiert, hatte Marc Clémeur, von 2009 bis 2017 Directeur général, die Rhein-Oper konzipiert, regional verankert, zugleich Brücken bauend über nationale Grenzen hinweg. Aber es war Eva Kleinitz, die in leitenden Positionen bei den Bregenzer Festspielen, am Brüsseler Théâtre Royal de la Monnaie, ab 2011 als Operndirektorin in Stuttgart gearbeitet hatte, bevor sie an die Spitze der Opéra national du Rhin berufen wurde, der es im Schulterschluss mit dem Dramaturgen Christian Longchamp gelang, das künstlerische Profil um viele junge Stimmen und eine thematisch wie stilistisch originelle Vielfalt zu bereichern, die allenthalben Aufbruch signalisierte. Von einem frühbarocken Fundstück wie Giovanni Legrenzis «La divisione del mondo» oder Offenbachs seit 150 Jahren nicht mehr aufgeführter Buffa «Barkouf oder ein Hund an der Macht» bis zu Wiederentdeckungen wie Alberto Ginasteras nach Stendhal und Shelley komponierter «Beatrix Cenci», die im Rahmen des neuen, von Kleinitz initiierten «Arsmondo»-Festivals endlich wieder auf die Bühne kam, reichte das Spektrum der vergangenen Saison. Einer Spielzeit, deren letzte Premiere die unermüdliche, polyglotte Netzwerkerin, die unzählige Talente zusammenbrachte und unterschiedlichste Temperamente zu produktiven Teams zu formen wusste, nicht mehr erlebt hat: Am 30. Mai 2019 ist Eva Kleinitz nach langer Krankheit gestorben. Die Würdigung der Opéra national du Rhin, sie wird so auch zu einer Hommage an die Persönlichkeit, die deren Höhenflug steuerte (Seite 4).

Mit randständigem Repertoire, eingebettet in ein für das heimische Publikum maßgeschneidertes Angebot, das sich sonst aus dem Opernkanon, aus Operette und Musical speist, lässt seit 2011 das Theater Osnabrück aufhorchen. Es sind vor allem (mehr oder weniger) unbekannte Werke aus dem frühen 20. Jahrhundert, die Intendant Ralf Waldschmidt in der «Friedensstadt» vorstellt. Mit Einaktern von Paul Hindemith, dem «Wozzeck» von Manfred Gurlitt, Hans Gals «Lied der Nacht» und vielen anderen Trouvaillen hat er nicht nur die zahlreichen Stammbesucher bekannt gemacht, sondern auch viele auswärtige Gäste in das Fünf-Sparten-Haus gelockt. Dass ein bis vor Kurzem allenfalls Experten geläufiges Opus wie Albéric Magnards «Guercœur», eine Art musitheatralische Traumdeutung zwischen Grand opéra und Mysterienspiel, sich als international rezipierter Triumph erweisen würde, damit hatten auch GMD Andreas Hotz und Regisseur Dirk Schmeding nicht gerechnet, die maßgeblichen Anteil daran hatten, dass dieses Stück mit deutlichem Vorsprung zur WIEDERENTDECKUNG DES JAHRES gewählt wurde (Seite 42).

Weniger überraschend, aber umso klarer fiel das Votum diesmal für die URAUFFÜHRUNG DES JAHRES aus: György Kurtágs Beckett-Oper «Fin de partie», die, bezieht man erste Überlegungen und Skizzen ein, fast sechs Jahrzehnte reifte, bevor der mittlerweile 93-jährige Komponist die Partitur für die Mailänder Scala freigab. Doch was da – von Markus Stenz pointillistisch-farbensatt dirigiert und von Pierre Audi als Reminiszenz an «Endspiel»-Bühnen der 1950er- und 1960er-Jahre inszeniert – im November 2018 zu erleben war, betrachtet Kurtág selbst als work in progress, als erste Version einer Literaturoper, die er fortzuschreiben beabsichtigt, bis der gesamte Text des Dramas verarbeitet ist. Ende offen (Seite 36).

Für Spannung sorgt ebenso die Frage, wie es weitergeht mit einer Stimme, die als größte Hoffnung des lyrisch-dramatischen Sopranfachs gilt. Seit Lise Davidsen 2015 den Operalia- und den Königin-Sonja-Wettbewerb gewann, reist die NACHWUCHSKÜNSTLERIN DES JAHRES mit Weber-, Wagner-, Tschaikowsky- und Strauss-Partien um die Welt – und läuft dabei Gefahr, sich zu überlasten. Was ein Jammer wäre angesichts des einzigartig reichen, üppigen Materials, mit dem die junge Norwegerin gesegnet ist. Ein beeindruckendes Potenzial, das freilich verspielt werden könnte, wenn die für eine gesunde Entwicklung nötige Zeit fehlt – nicht zuletzt für die Feinarbeit an Technik und musikalischer Gestaltung (Seite 62). Noch am Anfang ihrer Karriere steht auch die französische Sopranistin Jodie Devos, deren mit dem Münchner Rundfunkorchester unter Laurent Campellone eingespieltes Potpourri «Offenbach Colorature» (Alpha) die CD DES JAHRES ist. Zur KOSTÜMBILDNERIN DES JAHRES wurde erstmals Ursula Kudrna gewählt, vor allem für die märchenhaft-zirzenische Garderobe ihrer Salzburger «Zauberflöten»-Figuren (Seite 72). Über den Titel CHOR DES JAHRES darf sich zum zwölften Mal der Chor der Staatsoper Stuttgart freuen, als ÄRGERNIS DES JAHRES stieß besonders der zu Lasten des von Intendant Florian Lutz und seinem Team angestoßenen künstlerischen Aufbruchs ausgetragene Machtkampf um die Oper Halle auf. Das BUCH DES JAHRES hat der Musiker und Journalist Volker Hagedorn geschrieben: In «Der Klang von Paris» (Rowohlt) mischt er brillant die Perspektiven des Musik- und Kulturhistorikers mit der des reisenden Spurensuchers und imaginativen Erzählers (Seite 82).

Wie immer zählen nicht nur die Gewinner, sondern die Voten aller 50 Kritiker – deshalb drucken wir sie vollständig ab: als Information für die Opernhäuser und als Lesestoff für alle, die die zurückliegende Spielzeit Revue passieren lassen möchten. Wie farbig und kontrastreich die Wunderkammer Oper in der Saison 2018/19 war, erschließt sich in ganzer Fülle aus dem Panorama der Meinungen und Wertungen.

Die gesamte Kritikerumfrage finden Sie hier als PDF


Opernwelt Jahrbuch 2019
Rubrik: Bilanz, Seite 56
von Albrecht Thiemann

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