Dekonstruktion des Titans
Die quasi religiöse Beethoven-Verehrung vergangener Zeiten scheint nicht mehr en vogue, selbst in diesem Jubiläumsjahr. Bereits vor 20 Jahren stellte die FAZ im Zusammenhang mit einer Neuedition von Beethovens Briefwechsel fest, dass der «Klassiker-Kanon an normativem Druck verloren» habe, und damit auch jene «Einschüchterung durch Klassizität», gegen die Brecht angegangen sei.
So wird der Komponist nicht nur beim Googeln des Epithetons «Titan» von Bayern Münchens ehemaligem Torwart Oliver Kahn von der ersten Stelle verdrängt, er sieht sich auch in vielen Publikationen kaum mehr titanenhaft dargestellt, sondern als überaus verletzlicher, im doppelten Sinne «un-ordentlicher» Mensch. Um es im Stil des Boulevard zu formulieren: Es scheint durchaus angesagt, an den Sockel des Beethoven-Denkmals zu pinkeln. Das schließt Hinweise auf die Trunksucht und hygienische Verwahrlosung des Komponisten (der ungeleerte Nachttopf unter dem Klavier!), auch Vermutungen über seine Homosexualität ein.
Sehr unterschiedlich gehen die hier besprochenen vier Publikationen mit dem Jubilar um, wobei die Bandbreite vom fundiert Musikwissenschaftlichen über die feuilletonistisch aufbereitete Biografie und ...
Weiterlesen mit dem digitalen Monats-Abo
Sie sind bereits Abonnent von Opernwelt? Loggen Sie sich hier ein
- Alle Opernwelt-Artikel online lesen
- Zugang zur Opernwelt-App und zum ePaper
- Lesegenuss auf allen Endgeräten
- Zugang zum Onlinearchiv von Opernwelt
Sie können alle Vorteile des Abos
sofort nutzen
Opernwelt März 2020
Rubrik: Hören, Sehen, Lesen, Seite 28
von Gerhard Persché
Schon Hölderlins Hyperion ahnte es: Der Mensch ist eine beunruhigend prekäre Einrichtung der Natur, etwas, «das, wie ein Chaos gärt, oder modert, wie ein fauler Baum, und nie zu einer Reife gedeiht». Ähnlich kritisch sieht dies auch Golem XIV, jener Supercomputer, dem der polnische Science fiction-Autor Stanisław Lem 1973 ein intelligent-funkelndes literarisches...
Rossini in Pesaro dirigieren – ist das schwerer oder leichter als anderswo?
Es gibt dort ein großes Verständnis für diesen Komponisten, das macht es leicht. Andererseits muss man mit den Orchestern, die aus der Symphonik kommen, stilistische Dinge klären oder die Balance zur Bühne. Nehmen wir das berühmte Rossini-Crescendo: Da lasse ich während der ersten Takte...
«Das Serail ist eine Stadt. Ein Leben ständigen Rennens, […] ein Gefängnis der Einsamkeit.» Als Luk Perceval für eine Opernregie in Genf angefragt wurde, bestand der belgische Theatermann auf «beträchtlichen Freiheiten». So wurde Mozarts Singspiel aus dem Jahre 1782 entkernt: keine Dialoge, kein Serail, kein Bassa Selim, kein Orientalismus. Stattdessen eine...