Blickgeworden

Christoph Marthalers Hamburger «Lulu» macht sprachlos, Kent Nagano schärft Bergs Partitur und präsentiert einen neuen Schluss

Am Anfang die Stille. Menschentiere, keine Sensationen, weder Klang noch Dynamik, stattdessen: Erstarrung. Auch der Ort selbst, ein Laboratorium ungenutzter magischer Möglichkeiten, scheint wie verwaist. Tische, Stühle, ein Sprungbrett, Bilder und Rahmen, unbelebte Materie; hinten ein Käfig mit mehreren Vorhängen. In diese Wartehalle der Vergeblichkeit schiebt nun der Tierbändiger eine Figur nach der anderen, stellt sie in Reih und Glied zum Gruppenbild, wie Schaufensterpuppen, neun entseelte Kreaturen vor fahler Zirkuslandschaft.

Davor ein schmuckloses Podest, darauf eine Liegende in hellblauem Bademantel; wie ein verwundetes Tier wendet sie uns den Rücken zu.

Lulu (oder auch: Nellie, Mignon, Eva). Kaum eine Opernfigur ist mit Bildern beladener. Jedes Bild dieser femme fatale et fragile erreicht uns als ein bereits gedeutetes. Unendlich viel ist über sie gesagt, geschrieben, in Szene gesetzt. Nur das eine womöglich noch nie: dass sie ein Tier ist und zugleich die Gliederpuppe Olympia; mal das eine, mal das andere. Aber immer nur blickgewordenes Objekt, nie Subjekt. Diese Hamburger Lulu, so scheint es, hat kein Bewusstsein. Sie existiert nur als Vorstellung, nur im Bewusstsein der ...

Weiterlesen mit dem digitalen Monats-Abo

Sie sind bereits Abonnent von Opernwelt? Loggen Sie sich hier ein
  • Alle Opernwelt-Artikel online lesen
  • Zugang zur Opernwelt-App und zum ePaper
  • Lesegenuss auf allen Endgeräten
  • Zugang zum Onlinearchiv von Opernwelt

Sie können alle Vorteile des Abos
sofort nutzen

Digital-Abo testen

Opernwelt April 2017
Rubrik: Im Focus, Seite 10
von Jürgen Otten

Weitere Beiträge
Personalien | Meldungen

JUBILARE

Luigi Ernesto Alva y Talledo wurde am 10. April 1927 in Lima geboren. Nach ersten Gesangsstudien in seiner Heimat Peru bei Rosa Mercedes Ayarza ging er 1953 nach Mailand, wo er ein Jahr später als Alfredo in Verdis «La traviata» debütierte und in La Scuola di Canto an der Scala aufgenommen wurde. Der Durchbruch gelang ihm 1956 ebendort als Graf Almaviva...

Mächtig ohnmächtig

Das erste Mirakel des Abends ist das Orchester der Opera Vlaanderen. Man hört das knappe Vorspiel zum Prolog so seidenfein leicht und fast beiläufig, wie Verdi es sich wohl gedacht hat. Und was suggestiv beginnt, hält und trägt durch den gesamten «Boccanegra». Alexander Joel bringt die Wunderklänge dieser Partitur zum Sprechen, lässt die Details glänzen, behält...

iScreen, YouScream!

Seit 20 Jahren firmiert es unter diesem Namen. Und seit 37 hat es den Anspruch, einen Querschnitt der Gegenwartsmusik zu bieten. Anfangs konzentrierte man sich auf Komponistenporträts und Schwerpunktthemen. Doch auch nach dem Relaunch 1997 gab es (unausgesprochen) einen Pol: Formen des Performativen und die menschliche Stimme. Beim Mini-Jubiläum mit 25...