Den Goldstandard bewahren

„Bloß keine akustische Verschlechterung“ hieß das erklärte Primärziel für den Um- und Ausbau des neuen Orchesterpodiums im Großen Saal des Gewandhauses zu Leipzig. Darüber hinaus nutzten das Gewandhaus und die Akustikplaner die Gelegenheit, eine lang ersehnte und für das Orchester merkbare Verbesserung der Podiumsakustik zu realisieren. Mit der Eröffnung der 240. Gewandhaus-Saison im Herbst 2020 ging der Saal nach erfolgreichem Umbau vollumfänglich in Betrieb.

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Der Leitspruch „Res severa verum gaudium.“ („Wahre Freude ist eine ernste Sache.“) des Gewandhauses und des Gewandhausorchesters zu Leipzig zeigt die Vielschichtigkeit des Musizierens sowie Aufführens. Während des Komplettaus- und -umbaus (BTR 2/2020) des bewährten, mittlerweile 40-jährigen Orchesterpodiums sowie sämtlicher Podiumswände begleitete auch uns Akustiker dieses Leitmotiv. Das Gewandhaus zu Leipzig folgt einer Konzerthaus-Lehrbuchkarriere. Mit dem immer aktiver werdenden bürgerlichen Musikleben wurde bereits im 18.

Jahrhundert durch eine Gruppe von Musikliebhabern ein noch relativ kleiner Konzertsaal in einem Gewandhaus eingerichtet. Im folgenden Jahrhundert entstand durch Anstrengungen der Leipziger Bürger ein großes Konzerthaus nach klassischem Stil. Dieses war bereits in der damaligen Zeit legendär und inspirierend über die Grenzen hinaus, etwa als Vorlage für die größere, noch heute existierende Boston Symphony Hall. Nach den Kriegsschäden von 1945 musste in einer langen Übergangsphase mit einer Kongresshalle als Spielumgebung vorliebgenommen werden. Erst 1981 konnte mit der Eröffnung des DDR-Großprojekts das (dritte) „Neue Gewandhaus“ unter der starken Leitfigur von Dirigent Kurt Masur realisiert werden. Der akustische Werdegang ist dabei ebenso beispielhaft: Von einem kleinen, lautstarken (Kammer-)Musikraum zu einem ordentlichen Rechtecksaal. Beides waren akustische Glücksfälle mit viel Dynamik und Umhüllung und wurden von namhaften Komponisten-Dirigenten wie Felix Mendelssohn Bartholdy oder Carl Reinecke genutzt. Bis hin zu einem „modernen“ Saalentwurf durch das Architektenteam um Prof. Skoda und durch die umfangreichen Studien der Akustiker um Hans-Peter Tennhardt unter Verwendung aller damals vorhandenen wissenschaftlichen Möglichkeiten ausgetüftelt.

Der Große Saal des Gewandhauses zu Leipzig gilt heutzutage als Saal mit der besten Akustik und einer zeitgemäßen Konzertsaal-Architektur – ohne die Allüren moderner Akustikplanung. Bespielt wird der Saal von gefragten Dirigenten und dem Gewandhausorchester als einem der Top-Orchester weltweit. Es tritt als eine stark beachtete Institution in der weiten Klassik-Landschaft auf. Vor diesem Hintergrund wurde ab dem Jahr 2017 der Umbau des Podiums geplant. Eine wesentliche Motivation war das Alter der Bühnenmaschine und die hohe Belegungsdichte mit Fremdveranstaltungen, die viele schnelle Umbauten erfordern. Das alte Hubpodium war in seiner Flexibilität und Lebenszeit begrenzt und sollte in angepasstem Layout und erweiterter Funktionalität ausgetauscht werden. Die akustische Planung umfasste an erster Stelle die planerisch-klangliche Qualitätssicherung des Saals, die Planung und Gestaltung des neuen Podiums sowie die Beratung für die neuen Bodenaufbauten. Schließlich ließ die Leitung des Hauses den akustischen Gedanken freien Lauf, woraus schließlich einige feine und sehr wirkungsvolle Anpassungen entstanden.

Eine akustische Bestandsaufnahme lässt sich mit einem Gang zum Facharzt vergleichen. Es wird auf Herz und Nieren geprüft, gemessen, durchleuchtet und dann diskutiert und diagnostiziert. Somit markierte ein umfassendes musikalisches und physikalisches Verstehen der Situation den Beginn der Akustikexpertise. Hierfür kam das gesamte Instrumentarium modernster Raumakustikplanung zur Anwendung, von 3D-Simulationen und Messungen bis hin zu In-Situ-Audio-Recordings im Saal und auf dem Podium. Die Ergebnisse und die Tonaufnahmen wurden der Intendanz, dem Orchester und dem Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons vorgeführt und ermöglichten damit eine qualifizierte Diskussion über den Podiumsumbau. Im Rahmen der Bestandsaufnahme wurde schnell klar, dass die vorherrschende Einschätzung des Saals als „akustischer Goldstandard“ absolut berechtigt ist. Der Saal liefert eine Spitzenperformance für die Zuhörer. Anders als bei einigen modernen Saalgrundrissen gibt es an der bestehenden Form nichts zu verbessern, der Klang ist homogen und durchhörbar ohne Verlust von Klangfülle. Die Akustik des Großen Saals hält dem aktuellen Vergleich mit anderen Sälen stand oder übertrifft sie sogar in vielen Fällen.

Während der Außeneindruck für die Zuhörer sozusagen blendend war, gab es bei der Eigenwahrnehmung der Musiker durchaus Diskussionsbedarf, und zwar bereits seit vielen Jahren. Nach Besuch mehrerer Proben und Konzerte sowie nach Orchesterbefragungen ließ sich der Status zusammenfassen: Es spielt sich in der Tat nicht überall ganz ungetrübt auf dem Orchesterpodium. Insbesondere die Kommunikation zwischen den Musikern auf dem vorderen und hinteren Podium könnte besser sein. Eine genaue Analyse auf dem Podium bestätigte die langjährigen Beobachtungen und Erfahrungen der Musiker. Manche Stimmgruppen hatten einen zu schwachen Spielkontakt mit anderen Stimmgruppen. Die hohe Professionalität der dort spielenden Orchestermusiker glich dies aus, das gegenseitige Hören blieb jedoch etwas unbefriedigend. Woran lag es? Das im Gewandhaus relativ stark öffnende Podium belässt „nicht genügend Klang auf der Bühne“ zum gegenseitigen Hören. In vielen Konzerthäusern wird dies mit sogenannten Deckensegeln, also „Plafonds“, ausgeglichen, insbesondere wenn die Deckenhöhe extrem hoch ist. Im Gewandhaus zu Leipzig beträgt die Höhe über dem Podium nur etwa 15 m. Hinzu kommt das perfekte Surround-Saalkonzept. Es benötigt einen ungestörten „Hallraum“ über dem Podium, um einen guten Zuschauerklang zu erreichen. Deckensegel würden hier die Klangausbreitung störend beeinflussen.

Um trotzdem eine deutliche Verbesserung auf dem Podium zu erreichen, wurde ein zielgerichtetes Maßnahmenpaket entwickelt, das sich ausschließlich auf die umfassenden Wände und Brüstungen des Podiums konzentrierte. Planungsziel war eine verbesserte Klangabdeckung auf dem Podium ohne jegliche Einbußen im Bereich der Zuhörer. Das Maßnahmenpaket umfasste die folgenden sechs Punkte: Einfluss des Orchesters Der Ensembleklang im Saal und der Klang auf der Bühne sind für Orchestermusiker immens wichtig. Daher wurde zu Beginn der Untersuchungen, vor Umsetzung der Maßnahmen und nach dem 1. Bauabschnitt das Orchester befragt. Hierbei konnten die verschiedenen Perspektiven ausgetauscht und zusammengebracht werden. Das erste Stimmungsbild war überaus wichtig, um die Bedürfnisse und Ansprüche zu formulieren, sowohl aus Sicht einzelner Instrumentalgruppen als auch dem Orchester als Ganzem. Die weiteren Gespräche bestärkten und versicherten die Akustiker in ihrem Vorgehen. Daneben wurde ausführlich argumentiert, dass das Orchester zukünftig tendenziell weiter hinten auf dem Podium sitzen sollte. Erfahrungsgemäß verbessert dies bei öffnenden Podien den Kontakt im Orchester, da die vorderen Streicher näher im Bereich reflektierender Wände sitzen. Zudem gehen wichtige Bodenreflexionen von der Vorbühne verloren, wenn die vorderen Streicher zu nahe an der Podiumskante spielen. Bereits Masur waren diese Zusammenhänge wohl bewusst, wie auf Fotos von der Konzerteröffnung 1981 zu erkennen ist. Trotz großer Besetzung und Solisten saß das Orchester früher deutlich weiter hinten als heute.

Verringerung der starken Podiumsöffnung Die bisherige Geometrie der Seitenwände wies einen Öffnungswinkel von etwa 16° auf. Diese relativ starke Öffnung zum Saal führte dazu, dass zu wenig Klang auf der Bühne verblieb. Die akustischen Untersuchungen ergaben, dass eine Winkeländerung eine deutliche Verbesserung des Ensemblehörens erwarten lässt, insbesondere, was den Klangkontakt zwischen der vorderen und hinteren Podiumshälfte betrifft. Mit den seitlichen Zugangstüren bestanden bauliche Fixpunkte. Da das Podium an der Rückwand auch zusätzlich breiter werden sollte, bestand die Lösung im Abbruch einer statisch unwirksamen Füllwand. Dadurch konnte Platz geschaffen werden, um „in die Tiefe zu arbeiten“ und die Wand auszudrehen. Vorne auf dem Podium wurde eine Drehung in Richtung Bühne erreicht. Der neue Öffnungswinkel des Podiums variiert nun zwischen 8° und 12°.

Einführung einer diffusen Struktur an den Seitenwänden Um eine ausreichende Winkeländerung über die große Länge von etwa 10 bis 11 m zu erreichen, wurde die bis dahin glatte und durchgehende Seitenwand in sogenannte Sägezahn-Elemente gegliedert. Durch das Gliedern ergibt sich zudem eine diffus schallstreuende Struktur, die eine zusätzliche Klangdurchmischung erzeugt. Die Hubpodien wurden in ihrer Form entsprechend angepasst. Gestalterisch fanden sich solche Sägezahn-Elemente bereits etwa an der Rückwand des Saals und fügten sich somit gut ins Gesamtbild ein – fast so gut, als wären sie schon immer so geplant gewesen.

„Vorklappen“ einer Brüstung Gerade die hohen Streicher in Richtung Publikum sitzen bei einem öffnenden Podium häufig ein wenig zu stark separiert. Während der akustischen Untersuchungen wurden sämtliche in Weiß dargestellten Podiumsbrüstungen genau studiert. Fast alle Flächen erschienen in der ursprünglichen Konzeption bereits ideal eingestellt, nicht jedoch die zurückfallende Brüstung B3 im vorderen Übergang zum Saal. Zusätzliche Lateralreflexionen konnten generiert werden, wenn dieses Brüstungsstück B3 (symmetrisch links und rechts) Richtung Podium statt Richtung Decke zeigt. Den geschickten Handwerkern der Trockenbaufirma ist eine nahezu unbemerkte Formung gelungen, durch die die hohen Streicher nun mehr akustischen „Rückhalt“ haben.

Perforierte Setzstufen im Bereich der Hörner Ein explizit genannter Wunsch war eine lokale Anpassung der Akustik im Bereich der Hörner. Es sollten die starken Rückwürfe hinter den Spielenden gemindert und somit die eigene Spielkontrolle verbessert werden. Diese Verbesserung wird durch perforierte Setzstufen bzw. Podiumsblenden erreicht, obwohl sich nur ein ganz kleiner Teil des Klangs in den perforierten Flächen verliert.

Teilabsorbierender Rückwandstreifen Die großflächige, glatte Rückwand sorgte im Bestand für viele harte Schallreflexionen hinter der Percussions-Gruppe und dem schweren Blech. Um die klangliche Transparenz zu erhöhen, wurde eine teilabsorbierende Fläche vorgesehen. Bei Orchesterkonzerten mit gestaffeltem Podium verbleibt effektiv ein etwa 1 m hoher Streifen hinter der letzten Reihe der Musiker. Für Produktionen mit flachem Podium, zum Beispiel Fremdveranstaltungen, ist die Rückwand voll absorbierend aktiv und verbessert somit die Akustik auf der elektroakustisch beschallten Bühne (Monitoring).

Die Gesamtmaßnahme teilte sich in zwei Bauabschnitte: Im Sommer 2019 wurden die bestehenden Hubpodien hinten ersetzt und im Rahmen dessen auch sämtliche daran anschließende Wandflächen. Im Sommer 2020 wurden neue Hubpodien im vorderen Bereich eingesetzt und die dort befindlichen Podiumswände akustisch angepasst. Die Umsetzung der Maßnahmen wurde gemeinsam mit der Architektin Ulrike Kabitzsch und dem Technischen Leiter des Gewandhauses, Bernd Schöneich, genauestens verfolgt. In der akustischen Bauüberwachung mussten Materialien und Konstruktionen überprüft werden. Wie üblich beim „Bauen im Bestand“ gab es wiederholt erst beim Öffnen der jeweiligen Bauteile die Gewissheit über die Baugrundlage. Schließlich ließen sich jedoch alle genannten Punkte gut realisieren. Die Inbetriebnahme der erneuerten Podien erfolgte bei den Saisoneröffnungen 2019 und 2020. Durch den engen und umfangreichen Austausch mit dem Orchester, der Technischen Direktion, der Intendanz und den Planungsbeteiligten gelang eine außergewöhnliche Leistung. Zum einen wurde die Podiumsakustik spürbar verbessert, sämtliche Ziele zu gesteigerter Hörsamkeit und Transparenz auf dem Podium wurden von den Musikern wahrgenommen. Gespräche im Rahmen der Proben und ersten Aufführungen sowie einer Orchesterversammlung boten Platz für Diskussionen mit dem Resultat, dass eine große Zufriedenheit mit den akustischen Verbesserungen auf dem Podium besteht. Und für das Publikum? Sogar die Saalakustik konnte tendenziell weiter optimiert werden. So wurde durch die Maßnahmen auf dem Podium ein wärmerer Bassklang und eine präzisere Linienführung der Blechbläser erreicht. Die Resonanz der Musikfreunde und Presse war durchweg positiv. Das Gewandhaus ist nun technisch als auch akustisch bestens für den 40. Geburtstag und die weitere Vermittlung „wahrer Freude“ gerüstet. Auf die Wiedereröffnung nach der Coronapause dürften sich das Gewandhausorchester und das Publikum also gleichermaßen freuen.

Dr. Winfried Lachenmayr hat das Projekt als verantwortlicher Projektleiter für Müller-BBM betreut. Er ist studierter Tonmeister, promovierte in Akustik und plant seit 2013 die Akustik von Kulturbauten.
Prof. Karlheinz Müller, Müller-BBM GmbH, ist seit 1973 als Akustiker tätig und hat eine Vielzahl von Konzertsälen und Opernhäusern geplant. Er betreute die Festspiele Salzburg, Bayreuth und Baden-Baden und lehrte Akustik an der Musikuniversität Wien.

Projektbeteiligte

Planung Bühnentechnik: DTP Theaterbühnentechnik GmbH, Leipzig/Dresden Planung Bauleistungen: Ulrike Kabitzsch – Freie Architektin, Leipzig Audio-/Video-Leistung: Rockwork – Audio System Architects, Großpösna Statik: Ingenieurbüro Vocke-Follner, Leipzig
Akustik: Müller-BBM GmbH, Planegg Ausführung Bühnentechnik: SBS Bühnentechnik GmbH, Dresden


BTR Ausgabe 2 2021
Rubrik: Licht & Ton, Seite 16
von Winfried Lachenmayr und Karlheinz Müller

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