Zwischen Licht und Dunkel
Alles ist anders an diesem Abend. Die Zuschauer gehen nicht wie gewohnt über das Foyer zu den roten Plüschsitzen des Großen Hauses am Staatstheater Braunschweig. Stattdessen werden sie in den Bühnenbereich geleitet, wo vor dem Hinterbühnentor eine Tribüne aufgebaut ist. Die Bühne ist ein Ort für Ensemble, Orchester und Publikum gleichermaßen. Der Tribüne gegenüber befindet sich ein mit Gaze bespannter Kubus, rechts und links davon sind die Orchestermusiker und -musikerinnen platziert.
Der Abend beginnt mit einer Ansage, in der die Abspielleitung die Sicherheitsmaßnahmen erläutert, die zu beachten sind, wenn im Laufe des Stücks das Licht auf der Bühne ausgeschaltet wird. Danach beginnt der fast zweistündige Abend. Schon als die ersten Klänge des Orchesters ertönen, fällt der Raum in völliges Dunkel. Der Gesang einer weiblichen Stimme, nur aus Vokalen, erklingt von irgendwoher.
Hören und Erleben in der Dunkelheit
Die Oper „Koma“ beschreibt den Zustand zwischen Leben und Tod einer Frau. Michaela (Ekaterina Kudryavtseva) wurde von ihrer Tochter leblos in einem See gefunden, nachdem sie mitten im Winter schwimmen gegangen war. Sie fällt in ein Wachkoma. Nun liegt sie in einem Krankenzimmer und wird dort von ihrer Familie, Pflegern und Ärzten umsorgt. Schwester, Schwager, Tochter und Ehemann versuchen, Michaela mithilfe von Erzählungen und Gegenständen aus der Vergangenheit ins Leben zurückzuholen.
Der Komponist Georg Friedrich Haas hat in der Partitur vorgeschrieben, dass Szenen in absoluter Dunkelheit spielen. Ungewöhnlich, da Musiktheater eher für opulente Ausstattung und große Effekte steht. Hier hingegen werden die Zuschauer zu Zuhörenden, ein gänzlich verändertes Theatererlebnis. Immer wenn Michaela singt, erlischt das Licht. Das Publikum, das zwischen der Sängerin und dem Orchester sitzt, taucht ein in die Welt der Komapatientin, wird in die Musik gezogen und zum Teil des Geschehens. Es kann sich ganz seinen Gedanken und Gefühlen hingeben.
Die Bühne im Licht
Das in den beleuchteten Sequenzen sichtbare Bühnenbild besteht aus einem Kubus (Länge 7,0 m, Breite 4,0 m, Höhe 4,0 m), dessen Kanten aus Vierkant-Stahlprofil gefertigt und mit einer orange-roten Gaze bespannt sind. Das Geschehen auf der Bühne erhält dadurch etwas Traumhaftes. Mithilfe von sich öffnenden Schiebe- und Klapptüren in den Wänden des Kubus erhält der Zuschauer Inneneinsichten in das frühere Leben von Michaela. Der Kubus selbst scheint zu schweben, da er auf einem eingerückten quadratischen Wagen (Länge 3,50 m, Höhe 0,53 m) steht, der mithilfe von zwei Ventum-Mecanum-Modulen angetrieben und ferngesteuert wird. Der Kubus dreht sich im Laufe des Spiels um die eigene Achse und ermöglicht unterschiedliche Blickwinkel auf das vergangene und jetzige Familienleben und den Krankenhausalltag. Wenn der Kubus auf die Tribüne zufährt, wird eine räumliche Nähe zu den Sängern und Schauspielern geschaffen, die das Publikum in Michaelas Leben mitnimmt.
Es wird wieder Distanz erzeugt, wenn sich der Raum in Richtung Portal entfernt. Genauso wie es der Familie geht, die ihre Mutter, Ehefrau und Geliebte immer weiter verlieren. Überhöhungen wie riesengroße Requisiten, die teilweise aus dem Schnürboden fallen oder aus dem Fußboden gezogen werden, und Ärzte in aufgeblasenen Kostümen vervollständigen die oftmals surrealen Situationen. Über der Szene und den Zuschauern hängen viele unterschiedliche schwarze Kleidungsstücke an Kleiderbügeln – wie Schatten der Vergangenheit. Auf der Vorbühne, in der Größe des Portalausschnitts, hängt eine Projektionsfolie, auf der mittels Rückprojektion unterschiedliche Filmsequenzen gezeigt werden. Auch auf dem Kubus erscheinen von vorn Projektionen. Es sind mikroskopische Nahaufnahmen einer Wasseroberfläche sowie eine im Wasser treibende Frau. Auch hier werden wieder Mittel der Überhöhung und Vergrößerung eingesetzt. Dann bekommt Michaela, deren Stimme das Publikum nur gehört hat, ein Gesicht, das übergroß auf der Leinwand erscheint. Den rückwärtigen Abschluss der Bühne bildet das heruntergefahrene Hinterbühnentor und davor befinden sich die Zuschauertribüne, die aus den hinteren drei stufig aufgefahrenen Bühnenpodien besteht, auf die als weitere Stufen jeweils an die Hinterkante Zargen gestellt werden. So entsteht eine Tribüne mit sieben Stufen, die 180 Zuschauern Platz bietet.
Dunkelheit herstellen
Die größte Herausforderung für alle Beteiligten und für die technische Umsetzung an diesem Abend ist es, absolute Dunkelheit zu erreichen. Die jeweiligen Szenen dauern zwischen dreißig Sekunden und acht Minuten. Doch üblicherweise wird eine Theaterbühne nicht komplett dunkel, wenn das Licht ausgeschaltet wird. Überall sind Fluchtwegs- und Stand-by-Leuchten, Reflexionen und Lichtschlitze. Für das Abdunkeln des Raums werden die selbstleuchtenden Sicherheitszeichen auf der Bühne mittels Stellwänden und vom Einlasspersonal mit einer schwarzen Tafel an einer Stange verdeckt, die höher gelegenen Galerien werden mithilfe von Aushängen lichtdicht abgeschirmt. Zum Abdunkeln des Zuschauerraums wird der Schalldecker, der sich in der Nullgasse befindet, eingesetzt. Für die Dunkelszenen fährt er zu und verdeckt dann auch die helle Projektionsfolie auf der Vorbühne. Bleiben noch die Infrarotleuchten im Portal und Infrarotkameras, die über dem Zuschauerbereich hängen, damit Maschinisten und Inspizientin im Dunkeln sehen können, wer gerade wo ist und in welcher Position sich der Kubus befindet. Auch wenn es vom Regieteam gewünscht wurde, konnten die rot leuchtenden Infrarot(IR)-Geräte nicht eliminiert werden. Für größere Reichweiten, um den gesamten Bühnenbereich überwachen zu können, werden Geräte mit einer IR-Wellenlänge von 850 nm eingesetzt. Diese sind dann für das menschliche Auge noch sichtbar. Bei einer Wellenlänge von 940 nm ist das Infrarotlicht nicht mehr sichtbar, dafür fällt die Reichweite der Geräte geringer aus. Technisch stellt gerade beim Einsatz von Beamern und Monitoren das schnelle Ein- und Ausschalten manche Geräte auf die Probe. Sie brauchen immer einen Moment, bis sie wieder laufen. Nicht so die Laserprojektoren mit Shutter, die die Beleuchtung für die Front- und Rückprojektionen einsetzt und die problemlos in den Dunkelszenen abgedunkelt werden können. Die Röhrenmonitore, die das Dirigentenbild übertragen, können für die Dunkelszenen nicht immer an- und ausgeschaltet werden, da das Wiedereinschalten zu viel Zeit benötigt. Daher blieben sie einfach an und zeigten das schwarze Bild der dunklen Bühne. Damit im Repertoirebetrieb sichergestellt werden kann, dass es immer vollständig dunkel wird, gibt es vor jeder Veranstaltung eine „Dunkelprobe“, in der noch einmal überprüft wird, ob es auch wirklich dunkel ist, wenn das Licht ausgeschaltet wird. Außerdem dient diese Probe dazu, das Team auf der Bühne für die Situation zu sensibilisieren. Vor dem Ausschalten des Lichts gibt es eine kurze Unterweisung durch die Verantwortlichen für Veranstaltungstechnik, mit Hinweisen auf mögliche Gefahren. Die Unterweisungen sind Teil des Sicherheitskonzepts.
Sicherheitskonzept
Publikum auf der Bühne stellt eine Herausforderung dar: Wie gelangen die Besucher in den Bühnenraum, wo sind die notwendigen Fluchtwege und Notausgänge? Wie ist die Bestuhlungssituation? Wird die Beleuchtung in Intervallen komplett ausgeschaltet und Ensemble, Publikum und Theaterteam können sich nur durch Tasten im Raum bewegen, sind Notausgänge nicht sichtbar, braucht es ein ausgeklügeltes Sicherheitskonzept. Auch wenn jemandem unwohl wird, weil er sich in großer Dunkelheit befindet.
Die Fachkraft für Arbeitssicherheit und die Technische Direktion des Staatstheaters Braunschweig haben ein Sicherheitskonzept erarbeitet, das dafür sorgt, dass die Veranstaltung sicher ablaufen kann. Begleitet vom Einlasspersonal gelangt das Publikum über den Haupteingang ins Haus, von dort über einen Zugang in ein Treppenhaus des Bühnenhauses und von dort direkt auf die Bühne. Es gibt auch einen barrierefreien Zugang auf die Bühne, der über den Besucher- und dann Personalfahrstuhl im Bühnenbereich führt. Sollte im Notfall die Nutzung der Fahrstühle nicht möglich sein, werden mobilitätseingeschränkte Personen vom Ordnungsdienst mithilfe eines Evac-Chair über die Treppen nach draußen getragen. Die Flucht- und Rettungswege führen auf der rechten und linken Bühnenseite direkt über einen Gang in die Bühnentreppenhäuser direkt ins Freie bzw. an die Pforte und von dort nach draußen.
Zur Beobachtung und Begleitung des Publikums trägt jeweils eine Person des Einlassdienstes auf der rechten und linken Bühnenseite vor den zentralen Notausgängen sowie die anwesende verantwortliche Fachkraft für Veranstaltungstechnik ein Nachtsichtgerät. Die Zuschauer können sich bei Unwohlsein per Handzeichen oder mithilfe eines Knicklichts, das an ihren Stühlen befestigt ist, bemerkbar machen. Der Einlassdienst mit dem Infrarotsichtgerät informiert dann die Inspizientin per Lichtzeichen und führt die Person nach draußen, wo sie von Kollegen empfangen wird. Aufgrund der vorhandenen Türbreiten und zur Verfügung stehenden Fluchtwege ins Freie musste die Zuschaueranzahl auf 180 Personen begrenzt werden. Hinzu kommen noch die Orchestermitglieder, das Ensemble, das Team der technischen Abteilungen, die Inspizientin und Brandsicherheitswachen sowie der Ordnungsdienst – insgesamt 50 Personen. Personal und Besucher nutzen dieselben Flucht- und Rettungswege.
Kommunikation und Maschinerie
Die Inspizientin bildet während der Veranstaltung die Schnittstelle zwischen allen Gewerken und dem Ordnungsdienst. Alle an der Vorstellung beteiligten Mitarbeiter vom Ton, der Beleuchtung und der Technik funken über den gleichen Kanal. Das Vorderhauspersonal kann außerdem auch über den Hausruf angesprochen werden. Es verfügt über ein eigenes Kommunikationssystem, über das die Personen auf der Bühne und im Vorderhaus miteinander sprechen können. Ein Mitarbeiter auf der Bühne hat zusätzlich dazu noch ein Funkgerät des Theaters, um mit der Inspizientin sprechen zu können. Der Inspizientin kommt bei „Koma“ eine sehr wichtige Rolle zu, da sie neben ihrer Aufgabe, den szenischen und technischen Ablauf der Vorstellung zu koordinieren, auch noch die Schnittstelle bei möglichen Notfällen ist. Die besonderen Anforderungen, die an diesem Abend gestellt werden, potenzieren sich noch dadurch, dass die Partitur äußerst schwierig zu lesen ist. Wenn sie dann nicht gelesen werden kann, weil es dunkel ist, wird es kompliziert. Daher gibt es musikalische Verabredungen zwischen Dirigenten und Inspizientin, damit diese immer im Anschluss an die Dunkelszenen die richtigen Stellen in ihrem Buch findet und damit den Ablauf sicher und zuverlässig gewährleisten kann. Über das Monitorbild der Infrarotkamera kann die Inspizientin die Positionen des Kubus sowie auch die Positionen der Darstellenden kontrollieren, die sich im, vor und auch unter dem Kubus aufhalten. Der Techniker oder die Technikerin, die am Abend den Kubus bedient, arbeitet links neben der Zuschauertribüne. Mit einem mobilen Pult steuern sie die Drehungen und Fahrten des Kubus. Um auch in den Dunkelszenen gefahrlos Fahrten ausführen zu können, haben sie ebenfalls einen Monitor mit dem Bild der Infrarotkamera.
Dirigent und Orchester
Für den Dirigenten ist das Dirigieren der Passagen in der Dunkelheit eine ungewöhnliche Situation, weil er die Leitung über das Orchester in der Dunkelheit aus der Hand geben muss. „Ich werde überflüssig“, wie Alexis Agrafiotis selber sagt. Wie auch das Orchester kennt Agrafiotis große Teile der Oper auswendig, und findet so die richtige Stelle in der Partitur, wenn das Licht wieder angeht. Genau wie auch die Musikerinnen und Musiker. Die Sinne schärfen sich in der Dunkelheit und das Hören wird intensiver. Während der musikalischen Proben für die Oper trugen die Musikerinnen und Musiker Schlafmasken, um diese Wahrnehmungsveränderung zu erproben. Auch der Pianist und der Schlagwerker erfahren dabei eine weitere Herausforderung, denn sie können ihre Instrumente im Dunkeln nicht sehen. Wenn doch dem einen oder anderen Musiker Sprünge oder Auslassungen passieren, sei es aus Sicht des Komponisten tolerierbar und auch mit einkalkuliert, erläuterte Dirigent Agrafiotis in der Einführungsmatinée.
Beleuchtung und Ton
Für die Oper schreibt die Partitur von Haas drei Lichtsituationen vor: Tageslicht, Dämmerlicht und absolute Dunkelheit. Für die Szenen im Tages- und Dämmerlicht wurden unterschiedliche Stimmungen kreiert. Für das Dämmerlicht wird mit Schattenrissen gearbeitet und auch mit LED-Rampen, die in die Kanten des Kubus eingearbeitet sind. Videobeamer, die über der Zuschauertribüne hängen, projizieren von vorne auf den Kubus. Der Ton wird aus der Tonregie im Zuschauerraum gefahren. In den Endproben wurden teilweise das mikrotonal verstimmte und das Begleitklavier auf der Bühne eingespielt, weil beide Instrumente im Orchestergraben standen. Der Korrepetitor musste die Noten lesen können. Wie auch die Sängerin Pia Davila, die für die Partie der Jasmin, Michaelas Schwester, zwei Tage vor der Generalprobe für die erkrankte Kollegin Veronika Schäfer einspringen musste. Da Davila neben dem Orchester stand und von dort ihre Partie einsang, musste sie sich auch in den Dunkelszenen musikalisch orientieren. Sie erhielt ein In-Ear-Monitoring und der Korrepetitor sang aus der Tonregie ihre Passagen vor, sodass sie auch im Dunklen problemlos ihre Einsätze fand. Musikalisch und organisatorisch war es eine Höchstleistung. Gespielt hat die Rolle der Jasmin in der Generalprobe und Premiere die Regieassistentin Beatrice Müller. Der Abend stellt an alle Beteiligten aufgrund der ungewöhnlichen Bühnensituation im Dunklen besondere Anforderungen. Mithilfe einer detaillierten Abstimmung und einer äußerst präzisen Koordination entsteht ein außergewöhnlicher Theaterabend, der dem Publikum eine metaphysische Art der Wahrnehmung von Musik bietet. •
Martina Meyer ist als Bühnenmeisterin und als stellvertretende Technische Leiterin Kleines Haus am Staatstheater Braunschweig tätig.
„Koma“
Musikalische Leitung: Alexis Agrafiotis
Regie: Dagmar Schlingmann
Bühne & Kostüme: Sabine Mader
Licht: Jörg Schmidt
Dramaturgie: Sarah Grahneis
Nächste Spieltermine: 24. Mai und 1. Juni 2024
BTR Sonderband 2024
Rubrik: Potenziale und Produktionen, Seite 56
von Martina Meyer
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